10. Kongress der Sozialwirtschaft

Servicegetriebener Wandel

Durch aktives Steuern kann eine ungewisse Zukunft gestaltet werden. Das war eine der zentralen Aussagen beim 10. Kongress der Sozialwirtschaft, in dem es unter anderem um den „Megatrend Digitalisierung“ ging.

„Die vernetzte Gesellschaft sozial gestalten“ – so lautete das Leitthema des 10. Kongresses der Sozialwirtschaft. Vom 26. bis 28. April trafen sich in Magdeburg rund 400 Führungskräfte aus der Sozialwirtschaft zum Austausch und auf der Suche nach neuen Impulsen. Zum zwanzigjährigen Jubiläum des alle zwei Jahre stattfindenden Branchentreffens warfen die Kongressveranstalter – die Bank für Sozialwirtschaft, die BAGFW und der Nomos Verlag – einen Blick in die Zukunft: In drei Impulsvorträgen und acht Workshops ging es um Trends und Megatrends für die Branche, allem voran um die Digitalisierung.

 Rasanter Kongress-Start

Der Kongress startete im Plenum mit einem fulminanten Auftakt: Im Vortrag von Harald Preissler, Physiker und Dozent im Bereich Innovationsförderung, ging es um nicht weniger als die Zukunft. Preissler plädierte für einen bewussten Umgang mit Trends und Vorhersagen. Die Megatrends, die zurzeit in aller Munde sind, suggerierten Planungssicherheit, seien aber letztlich konstruierte Sachverhalte und immer interpretationswürdig. Eines müsse man sich bewusst machen: Für die Zukunftsgestaltung ist Unsicherheit unvermeidbar. Die Unsicherheit akzeptieren und die Trends richtig deuten, besonders im Hinblick auf Relevanz und Bedeutung, dies seien die Schlüsselvoraussetzungen für eine verantwortungsvolle Gestaltung der Zukunft.

Getreu dem Kongressschwerpunkt zur Digitalisierung übertrug Preissler die aktuellen Trends auf die Sozialwirtschaft und formulierte eine Reihe von Fragen: Was bedeutet es für die Sozialwirtschaft, wenn ein „Full-Service“-Lebensstil, wie im „Smart home“ normal ist? Wie spreche ich Kunden an, die „always on“ sind, erst recht wenn selbstfahrende Autos noch mehr Medienkonsum möglich machen? Wie gehe ich mit Patienten um, die sich per Gesundheitsapp selbst vermessen und diagnostizieren? Sehe ich Einsparpotenziale oder fürchte ich um meinen Status? Welche Szenarien zum Einsatz von Robotern in der Sozialwirtschaft sind denkbar?

Die Antworten auf die großen Fragen blieb Preissler schuldig, aber er machte deutlich: „Viele Fragen sind wichtiger als schnelle Antworten“. Wenn geklärt sei, wie etwas funktioniert, wem es wozu nützt und wie es wirkt, müsse die eine alles entscheidende Frage zur Gestaltung der Zukunft beantwortet werden: „Was wollen wir?“ Nur durch aktives Steuern werde die ungewisse Zukunft gestaltbar. Denn, so Preisslers Fazit:  „Schwarz-weiß-Denken ist nicht hilfreich. Denn die Zukunft ist offen. Es wird immer gute und schlechte Seiten geben.“

 Branchenfremde Unternehmer werden zu Wettbewerbern

An diesem Punkt setzte Agaplesion-Chef Dr. Markus Horneber mit seinem Impulsvortrag ein: „Die Zukunft ist gestaltbar. Es kommt nur darauf an, welche Haltung wir einnehmen.“ Wodurch die Zukunft sozialwirtschaftlicher Organisationen bestimmt werde, sei eindeutig: durch die Kunden und Klienten. Patienten wollten heute nicht mehr „leiden und warten“, wie es der Ursprung des Wortes nahelegt, sondern hätten längst eigene Wünsche und Ansprüche. Nicht zuletzt dank Social Media verschafften sie sich heute selbst Teilhabe und Inklusion.

Der Wandel in den Angeboten der sozialen Dienste komme aus anderen Branchen, die servicegetrieben sind und den Kunden mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellen. Die neuen Anbieter versuchten nicht, die Sozialwirtschaft mit all ihren Besonderheiten von Grunde auf zu verstehen, genauso wenig, wie Jeff Bezos von Amazon die Warenhäuser verstehen wollte oder Facebook-Gründer Mark Zuckerberg das Poesiealbum. Ihr Ausgangspunkt sei so einfach wie bestechend: Dem Kunden genau den Service zu bieten, der er möchte und braucht. Dass diese dabei nicht von der Finanzierung her denken, sondern vom Kundenwunsch, versteht sich von selbst.

Hornreber fand deutliche Worte: „Den Kunden interessiert die Finanzierung nicht!“ Es sei an der Zeit, dass sozialwirtschaftliche Organisationen ihre Larmoyanz überwinden und in die Zukunft reisen. Die Frage sei doch, wie geht es in 30 Jahren weiter mit der Sozialwirtschaft? Gibt es dann überhaupt noch Krankheiten, Behinderungen, stationäre Einrichtungen? Hinweise darauf liefern Megatrends. Zwei davon hatte Horneber herausgepickt, um Makrotrends für die Unternehmensstrategie abzuleiten: die Individualisierung („Style“) und die Digitalisierung.

  Individualisierung und Digitalisierung

 Da Patienten heute über immer mehr Marktmacht verfügen (Stichwort: individuelles Budget, Selbstzahler), wollten sie auch individuell und persönlich behandelt werden. Die sozialen Dienstleistungen müssten also höchst flexibel an die Menschen angepasst werden. In der Logistik seien individuelle Lösungen gefragt, die personalisierte Medizin werde weiterentwickelt, beispielsweise die Immuntherapie in der Onkologie, wo die Therapie ständig individuell nachjustiert werde. Technisch sei dies alles möglich; Kosten und Ethik seien Aspekte, die selbstverständlich zu berücksichtigen seien. Bezogen auf die Organisationsentwicklung führe die Individualisierung zu einer Überwindung der Sektorengrenzen in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft. Agaplesion hat sich daher das Ziel „Transsektorale Vollversorgung“ ins Stammbuch geschrieben.

Im Hinblick auf die Digitalisierung sind Patienten und ihre Angehörigen oft viel weiter als das Gesundheitswesen. Sie bringen ihre Daten selbst mit, die sie über Fitness- und Gesundheitsapps gesammelt haben. Im Krankenhaus müssten sie dann Formulare immer wieder handschriftlich ausfüllen. Das sei Verschwendung von Zeit und Personal und führe zu intransparenten Prozessen, fehlenden Informationen und überflüssigen Rücksprachen. Die Zeit sollte besser in Kontakte zu den Patienten und ihren Angehörigen investiert werden.

Durch die richtige Nutzung von Daten bestehe ein riesiges Potenzial, Kosten zu senken und die Logistik zu verbessern. Als Beispiel nannte Horneber die Routenplanung der Reinigungskräfte im Krankenhaus. Über eine App erfahren die Reinigungskräfte bei Agaplesion, wann welches Bett frei ist und gereinigt werden kann. So sparen sie sich Umwege, lästiges Warten, Zeit und Kosten.

  Plattform lautet das Zauberwort

Dass Plattformen im Internet Angebot und Nachfrage steuern, ist hinreichend bekannt. Aber auch Krankenhäuser und sozialwirtschaftliche Einrichtungen müssten wissen, wie Patienten und Klienten zu ihnen kommen und wer die Ströme steuert. Bewertungsportale seien die wichtigsten Informationenquellen für qualitätsbewusste Kunden.

Wie geht nun Agaplesion mit den Erkenntnissen um? Die Auswertung des Megatrends Digitalisierung führte zum Aufbau einer „Agaplesion Digitalstrategie“, sagte Horneber. Ziel seiner Klinikgruppe sei es, das digitale Krankenhaus mit der Außenwelt zu vernetzen, angefangen bei der digitalen Patientenakte über die Einbindung externer Patientendaten bis hin zur Nutzung des gesamten Datenbestands für Diagnostik, Behandlung und Leistungserbringung.

Zum Abschluss gab Horneber den Zuhörern sein Erfolgsrezept mit auf den Weg: Grenzen überwinden, neu denken und zwar ohne Restriktionen wie Geld oder Gesetze.

Nachdem das Publikum sich vom „Vordenker des Jahres 2017“ ausgiebig zum Nachdenken hatte anregen lassen, ging es in acht parallel laufenden Workshops weiter. Hier setzen sich die Kongressteilnehmer nicht nur mit der Digitalisierung, sondern auch mit weiteren Megatrends wie Demografie, Ökonomisierung, Globalisierung und Nachhaltigkeit auseinander.

 Innovative Kampagnen und Projekte

Am Abend verlieh die Bank für Sozialwirtschaft die Auszeichnungen in ihrem „Wettbewerb Sozialkampagne“. Den ersten Preis für die beste Sozialkampagne und damit 10.000 Euro gewann die Neonazi-Aussteigerinitiative EXIT zusammen mit der Hamburger Werbeagentur Grabarz & Partner. Sie hatten eine besonders innovative Idee, um Spenden für das Aussteigerprogramm zu sammeln: einen unfreiwilligen Spendenlauf von Rechtsradikalen. Für jeden gegangenen Meter eines Nazi-Aufmarsches in der fränkischen Kleinstadt Wunsiedel spendeten Anwohner und Unternehmen 10 Euro an EXIT. Damit blieben den Neonazis nur zwei Möglichkeiten: entweder Spendengelder für EXIT sammeln oder nach Hause gehen. So gingen Rechtsradikale unter bunten Plakaten, Kirmesmusik und viel Gelächter selbst gegen Rechts auf die Straße.

Der zweite Kongresstag begann mit Präsentationen von drei ausgewählten Projekte einer vorher ausgeschriebenen Innovationsbörse: „Bridge & Tunnel“, „MemoreBox“ und „Integreat“. Besonders die MemoreBox, ein therapeutisches Videospiel speziell für den Einsatz in Pflegeeinrichtungen, beeindruckte die Teilnehmer. Ähnlich wie bei der bekannten „Wii“ geht es darum, mit Bewegungen vor dem Bildschirm Figuren bei Sport und Spiel zu steuern. Die Spieler können virtuell Motorradfahren, kegeln oder Briefe austragen und trainieren dabei ihre mentale und körperliche Leistungsfähigkeit. Besonderer Vorteil:   Jeder kann mitmachen, sogar im Rollstuhl oder vom Sessel aus. Der Schwierigkeitsgrad passt sich dynamisch an, um Misserfolg und Frustration zu vermeiden. Und dass es Spaß macht, konnten die Kongressteilnehmer im Selbstversuch erfahren. Die Entwicklung des Spiels wurde von der EU gefördert und in Zusammenarbeit mit dem Hospital zum Heiligen Geist, einem großen Seniorenzentrum in Hamburg, und der BARMER Krankenversicherung erprobt. Weitere Informationen: www.memore.de

 Dialog der Generationen: Kritik von Start-Ups

Die Veranstalter nutzten die große Bühne des Plenums auch für den Austausch mit jungen Sozialunternehmern. Unter der Leitfrage „Was denken High-Potentials über die Zukunft der Sozialwirtschaft?“ diskutierten mit den Teilnehmern: Malte Bedürftig, Gründer der Freiwilligenplattform GoVolunteer, Sarah Hüttenberend, Gründerin des Zweitzeugen-Projektes für Holocaust-Überlebende „Heimatsucher“, und Sally Maria Ollech, Gründerin von „querstadtein“ (Stadtrundgänge durch Berlin mit ehemaligen Obdachlosen und Geflüchteten),.

In der Sozialwirtschaft herrsche zurzeit eine Aufbruchstimmung wie in den 1980er und 1990er Jahren. Viele neue soziale Dienste entstehen, viele junge Leute wollen einen Beitrag leisten – ohne sich jedoch von festen Strukturen und den Ansprüchen anderer einengen zu lassen. In ihren Sozialunternehmen hätten sie „Mechanismen gefunden, um die Innovationskraft zu verankern, ohne ihren Schnellbootcharakter zu verlieren“, so Bedürftig. Man müssen das Unternehmertum stärker in den Organisationen etablieren und Freiräume für Ideen und Gestaltung lassen, um wirklich an der Problemlösung arbeiten zu können.

Gleichzeitig zeigten sich die drei Gründer offen für Kooperationen mit den Wohlfahrtsverbänden. Es gebe allerdings wenig Veranstaltungsformate, wo klassische Anbieter und Social Start-Ups sich begegneten. Persönliche Kontakte von Einzelpersonen seien oft die einzigen Berührungspunkte mit den „etablierten, alt eingefahrenen Organisationen“, wie ein Freudscher Versprecher offenbarte.

Ollech thematisierte auch mangelnde Diversität bei Veranstaltungen der Sozialwirtschaft. Allgemeiner Kritikpunkt: „Mit uns schmückt man sich, aber an Entscheidungen sind wir nicht beteiligt.“ Ein Verbandsvertreter forderte, die Infrastruktur der Wohlfahrtsverbände stärker für Start-Ups zu öffnen. Auch die bestehenden Organisationen könnten von der interdisziplinären Arbeitsweise und der Gründermentalität der Start-Ups profitieren.

 Vom Wege abkommen, um nicht auf der Strecke zu bleiben

Zum Abschluss des Kongresses sorgte Prof. Dr. Eckhard Minx für Inspiration. Der Zukunftsforscher und Vorstandsvorsitzende der Daimler und Benz Stiftung versprühte ein Feuerwerk der Weisheiten zum Thema „Zukunft“ und bewies einen umfangreichen Zitateschatz.

Als Außenstehender ging er mit frischem Blick auf bedeutsame Entwicklungen für die Sozialwirtschaft ein. Die Digitalisierung sei wie ein „Tsunami, der jedes Geschäft und jeden Beruf tangieren kann“. Was wir gerade erleben, ist „Evolution auf Speed“, wie der ehemalige Bertelsmann-Chef Hartmut Ostrowski schon 2011 sagte. Durch die unaufhaltsame Entwicklung der künstlichen Intelligenz stünden auch personenbezogenen Fürsorgediensten wie Pflege und Betreuung große Änderungen bevor. Dass eine gute Idee in Kombination mit den Möglichkeiten der Digitalisierung eine ganze Branche zerlegen kann, hätten bereits Unternehmen wie Amazon, AirBnB und Uber gezeigt. Auch die Sozialwirtschaft sei davor nicht gefeit.

Eins wurde klar: Stillstand bedeutet Rückschritt. Und auch soziale Errungenschaften können wieder verloren gehen. Nur: Was können Unternehmen tun, ob zukunftsorientiert zu bleiben? Minx hatte kein Patentrezept, aber einen Rat: das schier Unmögliche als möglich annehmen. Führungskräfte müssten „den Sinn für Möglichkeiten entwickeln“, Ziele fest in Auge fassen, Zuversicht verbreiten und mutig vorangehen. Denn letztlich bestimme nicht das Planen, sondern das Handeln den Erfolg.

Dass die Sozialwirtschaft den Anspruch erhebt, die Zukunft mitzugestalten, machte Dr. Gerhard Timm in seinem Schlusswort klar. „Engagieren Sie sich über Ihre eigene Organisation hinaus, stärken Sie die Verbände, sodass wir politisch Einfluss nehmen können, um die vernetzte Gesellschaft sozial zu gestalten!“, lautete sein eindringlicher Schlussappell.

 

Susanne Bauer
Bank für Sozialwirtschaft AG
Senior-Referentin Kommunikation

 

 veröffentlicht in der SOZIALwirtschaft aktuell 13/2017